NZZ Zukunftsdebatte Podium 1: Gesellschaft
3. November 2020Verdichtung konkret – am Beispiel Brunaupark
23. November 2020Mit dem Papst gegen Lugano
Glaubt man den Angaben des statistischen Amtes des Bundes, wächst die Bevölkerungszahl in der Schweiz aktuell um jährlich 0,7 Prozent. Es leben in der Schweiz aktuell 8,63 Millionen Personen. Davon 0,7 Prozent macht 60'400 Menschen (nicht 40'000, wie ich noch am 30. Oktober 2020 in der NZZ-Veranstaltung «Zürich wächst» glaubte). Jedes Jahr wächst also die Bevölkerungszahl in der Schweiz um rund 60'000. Zur Einordnung in die Grössenordnung: die 60'000 liegen zwischen Biel mit 53'000 und Lugano mit 63'000 Einwohnern.
Konkret: 60'000 Menschen wollen wohnen, arbeiten, pendeln, lernen und sich vergnügen. Und ins Grüne fahren. Jahr für Jahr kommen also 60'000 Menschen mit diesen Begehren zu den bereits hier lebenden hinzu. Die Raumplanung in unserem Land muss also jedes Jahr und immer wieder für neue 60'000 Menschen Raum schaffen: für Wohnungen, Strassen, Arbeitsplätze, Infrastrukturen und andere Petitessen. Wir müssen Jahr für Jahr eine Stadt in der Grösse von Lugano in die Schweizer Landschaft stampfen.
Wie macht man das? Alt-Bundesrätin Doris Leuthard lancierte kürzlich die revolutionäre Idee, man solle bei allen Einfamilienhüüslis den Dachstock ausbauen, was den landesweiten Druck auf die Wohnflächen etwas abschwäche. Die Fachwelt schwieg betroffen. Eine andere tolle Idee sind die «Tiny houses»; das sind Mini-Häuser mit Gesamt-Wohnflächen zwischen 25 und 40 Quadratmetern für 1- bis 3-Zimmer-Wohnungen. Die wenigsten davon stapelbar, notabene. Als Steigerung dieser sonderbaren Idee sind sogar mobile Tiny houses in der Diskussion. Man kann sie ans Auto anhängen. Wie früher der Planwagen hinter dem Pferd. Lustig ist das Zigeunerleben.
Ideen her!
Max Frisch forderte 1955 zusammen mit Markus Kutter und Luzius Burckhardt in der Kampfschrift «Achtung: die Schweiz» einen Quadratkilometer Land um darauf eine Stadt zu erstellen. Es ging den dreien aber nicht darum, das Bevölkerungswachstum in den Griff zu bekommen. Wie auch: die Schweiz hatte damals bloss 4,97 Millionen Einwohner, gut die Hälfte (58 %) von heute, (8,63 Mio.) und in der Landschaft gähnte die Leere. Nein, die drei Denker formulierten ästhetische Ansprüche an den Städtebau. Gleichwohl ist der Einstiegssatz der Kampfschrift noch heute und unter den neuen Umständen gültig: «Man ist nicht realistisch, indem man keine Ideen hat.»Also: Her mit den Ideen! Bauen kann man grundsätzlich in zwei Richtungen: in die Breite oder in die Höhe. Für die Breite bietet sich die Landschaft an, das Mittelland, die voralpine Region und die sanften Jurahügel. Das Mittelland ist eh schon überstreut mit Lagerhallen, Einfamilienhüüsli-Teppichen und Autobahnen, da kann man getrost verdichten und zwischen Bodensee und Genfersee Jahr für Jahr immer wieder eine Stadt wie Lugano hineinmosten. Der Siedlungsdruck verlangt es und die Politik knickt ein. Die Böden werden versiegelt und die Natur wird verdrängt. Es wird fleissig gebaut, jedes Jahr erneut für 60'000 Menschen.
Das Bauen in die Höhe ist da komplexer. Nicht wegen der Statik, sondern wegen der Politik. Hochhäuser, also Bauten ab dem 7. Stockwerk, brauchen spezielle Zonen und Sonderbauvorschriften. Da können alle mitreden. Das ist zwar spannend, aber auch zermürbend. Es gibt jedoch einen Ausweg: In den Städten und den Kern-Agglomerationen eröffnet sich die Möglichkeit der Verdichtung nach innen. Das ist zwar sicher ein vernünftiger Ansatz. Die Umsetzung stösst aber auf Widerstand, wie beispielsweise die geplante Überbauung Thurgauerstrasse in Zürich Seebach zeigt, mit der der Zürcher Stadtrat 700 Wohnungen, zum Teil im Hochhaus, also höher verdichtet, erstellen lassen will. Die Nachbarschaft rundum in ihren putzigen Häusern (fachsprachlich: kleinmassstäbliche Überbauung) wehrt sich – entgegen jede Vernunft – mit Hilfe von ganz links. Es ist ein Jammer.
Man sieht: Verdichtung wird schwierig. Sogar die Aufstockung ganzer Bauzonen stösst auf Widerstand, auch von Eigentümern. Dabei wäre in den Städten mit einer moderaten Aufzonung einiges herauszuholen. Was also bleibt, ist die Fläche. Konkret das Mittelland. Mit Lugano 2, Lugano 3, Lugano 4, Lugano 5... Das geht am schnellsten und ist effizient. Irgendwo müssen die 60'000 ja wohnen können, die jedes Jahr dazukommen.
Grenzen setzen
Kaum eine Partei, die sich nicht der erhaltenswerten Landschaft verschrieben hat. Bunte Wälder, grüne Felder, lächelnde Seen und herrliche Berge. Schöne Schweiz. Das wollen alle erhalten. Das geht aber nicht mit Lugano 2, 3, 4 und so weiter. Das geht nur mit einem Wachstums-Stopp. Als der Club of Rome vor 48 Jahren vor dem Kollaps warnte, und «Grenzen des Wachstums» forderte, zählte die Weltbevölkerung 3,85 Milliarden Köpfe; das ist die Hälfte von heute (7,76 Milliarden). Gemäss UN-Zahlen wächst die Weltbevölkerung zurzeit jährlich um knapp 80 Millionen Menschen. Um diese 80 Millionen zufriedenzustellen muss man jedes Jahr ein ganzes Deutschland aus dem Boden stampfen. Jedes Jahr. Da hat es die Schweiz vergleichsweise noch gut, wenn sie jedes Jahr nur eine Stadt Lugano neu hinstellen muss. Auf der grünen Wiese. (Es sei denn wir Menschen hören auf, uns zu vermehren wie die Karnickel. Die darf man hierzulande nicht mehr in die Chüngeliställe sperren. Uns Menschen aber schon, wenn das Wachstum so weitergeht. )Weder der Zupflasterung der Landschaft noch dem (oft nur herbeigeredeten) Dichtestress in den Siedlungsgebieten ist langfristig mit technischen Massnahmen beizukommen. Ein Wachstums-Stopp ist unvermeidbar. Das Bevölkerungswachstum weltweit muss sinken. Zwei Kinder pro Frau sind genug (Fertilität von 2,1). Das hat sogar Papst Franziskus im Apostolischen Schreiben «Amoris Laetitia» (2016) eingesehen, in dem er sich zwar staatliche Eingriffe in die Kinderzahl verbat, aber angesichts von Notlagen Verständnis für moderate Eingriffe zeigte. Auf eine Interview-Frage, wie viele Kinder denn eine Familie haben solle, sagte Franziskus, «zwei sind genug, aber es dürften auch einmal drei sein». Also nicht vier, fünf oder neun. Das ist wenigstens ein Lichtblick.
Hartmuth Attenhofer