Indikatoren zur „Stimmungslage“
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4. Februar 2021Die Schweiz ist kein Stadt-Staat
Ein Thomas Sevcik hat unlängst unter dem Titel „Auch Du bist ein Städter“ in einem anregenden Artikel in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (25.1.2021) das Hohelied der Urbanisierung verkündet und eine These vorgelegt, die etwa lautet: Die grossen Marktplätze sind die Weltstädte und die Städte wachsen in einem Ausmass, dass auch das Umland der Städte sich verstädtern wird: „Die zweite Phase der Verstädterung hat längst begonnen: Nicht nur wachsen unsere Städte unaufhörlich weiter und urbanisieren auch ihr engeres und weiteres Umland. Sie beginnen nun auch, sich ideell, materiell und kulturell von ihren eigentlichen „host countries“ zu lösen“. Die Gruppe der echten Stadtstaaten wie Hongkong, Monaco, Singapur oder Dubai würde vergrössert durch die heimlichen Stadtstaaten, wie Austin, Vancouver, Lagos, Hamburg oder Barcelona. Zu dieser Gruppe kommen nun noch diverse Hauptstädte, die sich in Kultur und Selbstverständnis ebenfalls wie Stadtstaaten benähmen, etwa London, Paris, oder Berlin.
Die De-Facto-Stadtstaaten folgten dabei einem ähnlichen Muster: Elitebildung, Pragmatismus, Multikulturalismus, Relativismus, Permissivität. Alles, aus der Sicht des Autors Horrorbegriffe und verwerfliche Werte für jeden anständigen Populisten. Das bringe nicht nur den totalen Triumph der Stadt, sondern eine via Justemilieu, Medienkontrolle und Nudging ausgeführte Projektion der Macht in das Hinterland hinein, als Ersatz für die oft ungenügend funktional-politische Macht von Städten innerhalb eines Nationalstaates. Eine primär griffig wirkende These, die sich nicht zuletzt auch durch die Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse auch in der Schweiz zu bestätigen scheint: Die Schweiz sei, so stellt er fest, als Ganzes ein Defacto-Stadtstaat, sie weigere sich aber diese Realität auch nur in Betracht zu ziehen.
Tatsächlich ist die Schweiz historisch gesehen ein Konglomerat von Stadt-Staaten – wie Genf, Basel, Zürich, Bern oder Luzern – und Landstaaten – wie Uri, Thurgau, oder Jura – die teilweise ihre Kantonshauptstadt erst suchen mussten wie der Bund 1848 seine Hauptstadt. Und nur wenige grosse Städte wie Basel oder Genf verfügen praktisch über kein „Hinterland“ – Basel war bei der Kantonsteilung seines Hinterlandes verlustig gegangen. Natürlich sind auch die Landgebiete längst in dem Sinne „urban“ geworden, dass sie durch den Ausbau der Verkehrs- und Informationsnetze und der Industrialisierung ähnliche Standards aufweisen wie die Städte. Noch immer sehr unterschiedlich ist aber die Identität in Stadt und Land, der gefühlsmässige Bezug zur Lebensumwelt und zu den Mitmenschen.
Ausgerechnet die Stadt, der Ort, an dem alles nahe und häufig ist, neigt zu mehr Anonymität – man kennt seine Nachbarn kaum – und zu weit verringerter Partizipation an öffentlichen Aufgaben. Kaum ausserhalb der Städte zeigt sich ein anderes Bild: Auch hier muss die Feuerwehr zwar darum kämpfen, genügend Freiwillige zu finden, aber Fussballclub, Blasmusik und Vereinsleben halten einigermassen ihre Posten. Meist sind aber Stadt und Land sehr eng verflochten: Die „Landbevölkerung“ fährt in die Stadt für die Arbeit, den Besuch von Schulen, Kinos und andere Kulturangebote, für Einkäufe oder um sich zu amüsieren. Die Stadtbewohner ihrerseits nutzen für ihre Freizeit das Angebot der umliegenden Natur. Viele pendeln so hin und her. Je mehr aber die Städte wachsen, umso mehr droht das Gleichgewicht von Stadt und Land zu kippen. Ein Stadt/Land-Graben tut sich auf. Den Preis für die Vergrösserung der Städte zahlt das Land: Die Agglomeration wächst – einem Krebsgeschwür gleich – in die Landschaft hinaus und beraubt diese ihres wichtigsten Trumpfs, dem Angebot an Natur und Freiraum. Zudem dominiert die Stadt bald auch politisch die Landschaft: Die grossen Massen von Wählerinnen und Wählern der Stadt können vom Land nicht mehr aufgewogen werden. Gleichermassen dominieren die grossen Städte die Landkantone. Nur dank dem in der Verfassung verankerten Ständemehr können sich letztere hie und da noch für ihre Positionen wehren. Aber damit möchten die Städte nun am liebsten auch Schluss machen und die Verfassung entsprechend ändern. Für ein Fussballstadion konnte Zürich noch eine knappe Mehrheit finden, nicht aber für die Lösung der grossen regionalen Verkehrsproblemen: Weder ein Seetunnel noch ein Waidhaldentunnel hatten eine Chance. Die Stadt will für Fussgänger und Velofahrer da sein, aber den Pendlern wird die rote Karte gezeigt.
Die Verstädterung verschärft die Probleme der grossen Städte. Je grösser sie werden umso weniger kommen sie mit typischen Stadtproblemen wie Obdachlosigkeit, Überfremdung, Kriminalität und Randale zu Rande. Man kann im Grossstadtleben aufgehen, viel Inspiration finden und sich im globalen Wirtschaftsraum mit anderen Grossstädten verlinken – so dass man schliesslich das eigene Land kaum mehr kennt und sicher nicht mehr zu brauchen glaubt. Aber: Je kleiner die Einheiten, desto besser sind sie zu überblicken und umso grösser ist die Bereitschaft, für gute Lösungen zusammenzuarbeiten. Das Gleichgewicht von Stadt und Land und das partnerschaftliche Zusammenwirken sind ein Erfolgsrezept der Schweiz, das man ohne Not nicht aufgeben sollte.
Andreas Honegger