Dem quantitativen Wachstum müssen Grenzen gesetzt werden
4. Februar 2021Wachstumsszenarien prägen die politische, wirtschaftliche und soziale Planung des Kantons
In einem NZZ-Interview vom 27. Juni 2015 sagte der Zürcher Regierungsrat Ernst Stocker: «Das Bevölkerungswachstum [im Kanton Zürich] löst zusätzliche Kosten von rund 4 Prozent aus, hauptsächlich in der Gesundheit, in der Bildung, im Sozialen und im öffentlichen Verkehr. Die geschätzten zusätzlichen Steuererträge nehmen aber nur um rund 1,3 Prozent zu.» Das ist durchaus plausibel. So berichten Infrastrukturplanerinnen und -planer, öffentliche Bauten würden zunehmend auf ökologisch geschützten oder schwierig bebaubaren Flächen erstellt und lange rechtliche Auseinandersetzungen kosteten zunehmend Geld und Nerven. Auch kämen sich die (Sach-)Pläne für Verkehr, Landschaft oder Raumentwicklung zunehmend in die Quere.
Die Szenarien für die Bevölkerungszunahme basieren auf differenzierten Überlegungen zu künftigen Geburtenraten und Sterblichkeit, zu internationalen Wanderungsbewegungen und zum Erwerb des Schweizer Bürgerrechts. So prognostiziert das Bundesamt für Statistik, dass der Kanton Zürich bis 2050 von 1,5 Millionen auf 1,8 bis 2,2 Millionen Personen wachsen werde (21 bis 41 Prozent). Als mittleres Szenario gilt ein Wachstum von 29 Prozent. Der Kanton Zürich errechnet ähnliche Zahlen mit Horizont 2040.
Nach diesen Szenarien richtet sich die Planung in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft, wobei man dank der Bevölkerungszunahme weiteres Wirtschaftswachstum erwartet. Doch die genannten Kosten und Konflikte scheinen als Planungsgrundlage ebenso ausgeblendet zu werden wie die entstehenden Schäden an der
Biodiversität, der Ressourcenverbrauch oder die Klimawirkung. Unberücksichtigt bleibt auch, wie die Städte vor der Klimaerwärmung geschützt werden können. Stattdessen schaffen die Planer und die Politik auf Basis der Szenarien die Voraussetzungen für die prognostizierte Bevölkerungszunahme und machen die Szenarien zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Es erstaunt, dass es keine breite öffentliche Diskussion zu diesen Bevölkerungsszenarien gibt, bestimmen sie doch erheblich die künftige Lebensqualität der Bevölkerung und die Funktionsfähigkeit der Ökosysteme.
Angesichts der existenziellen ökologischen Gefährdung der Menschheit läge es nahe, den Rahmen der Entwicklungsmodelle der Schweiz neu zu definieren: Die Ziele des Pariser Klimaabkommens und der Biodiversitätskonvention, die neue Bodenstrategie und die Berücksichtigung der planetaren Grenzen müssten die Leitplanken bilden, statt dass man sich an fortgeschriebenen bisherigen Trends und vermeintlichen Sachzwängen ausrichtet. Dies auch, weil sich die Schweizer Bevölkerung um ihr Lebensumfeld sorgt, wie die Omnibus-Erhebung 2019 zeigt: Lärm, Luftverschmutzung, Biodiversitätsverlust und Klimawandel gelten als zunehmend problematisch. Diese Sorgen dürften sich zuspitzen, wenn die Bevölkerungsszenarien die bauliche Entwicklung in der Schweiz leiten.
Und wie soll es nach 040/50 weitergehen? Will man das Feld bereiten, um die jährlichen Wachstumsraten der Bevölkerung von 0,9 Prozent und somit auch das Wirtschaftswachstum halten zu können, das den Umweltverbrauch noch weiter in die Höhe treibt? Eine absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Umweltverbrauch ist schon heute äusserst unwahrscheinlich.
Die Bevölkerungsszenarien erlauben uns unterdessen, den Punkt in die Ferne zu rücken, an dem wir uns fragen müssen: Was kommt nach dem ständigen Wachstum der Naturausbeutung, der Verschmutzung und Zerstörung, der Zubetonierung, der Zerschneidung und der zunehmenden Unwirtlichkeit der Städte? Vorerst planen und bauen wir!
Irmi Seidl leitet die Forschungseinheit Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Eidgenössischen Vorschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, die ein ETH-Bereich ist.
NZZ Live-Veranstaltung: Perspektive 2040: Wie wächst Zürichs Wirtschaft? Unter der Leitung von Luzi Bernet, Chefredaktor der «NZZ
am Sonntag», diskutiert Irmi Seidl mit Urs Frei, Unternehmer, Ulrich Widmer, CEO Kibag Holding, und Monika Bütler, Ökonomin, über die
wirtschaftliche Zukunft Zürichs. Mittwoch, 14. April 2021, 18.30 Uhr, NZZ-Foyer und online. Tickets und Informationen: nzz.ch/live.